Kalendertürchen Nr.5 für Dich:
Wie der Maulwurf Weihnachten feiert
Die erste Begegnung
Im Land der Wiesen, bei den tausend Hügeln lebt ein geheimnisvoller Geselle mit großen, kräftigen Pranken und einem kleinen Stummelschwanz. Sein Fell ist unbeschreiblich weich und fein, weicher als die flauschigste Wolle und feiner als die feinste Seide.
Die winzigen Augen liegen tief im Fell versteckt, er kann kaum sehen. Nur Hell und Dunkel kann er unterscheiden. Dafür sind seine Nase und sein Gehör sehr fein. Das ist auch nicht verwunderlich, denn er lebt, wo nie die Sonne scheint: Unter der Erde. Ihr wisst sicher längst, ich spreche vom Maulwurf.
Die wenigsten von Euch werden ihn schon mal zu Gesicht bekommen, geschweige denn ein Wort mit ihm gewechselt haben. Kein Wunder -er hält sich ja auch am liebsten (mit Erde) bedeckt.
An einem bitterkalten, klarem Wintertag saß ich mit einer Tasse heißem Kirschwurzeltee und einer dicken Wolldecke um die Beine geschlungen auf der alten Holzbank im Garten und genoß eingemummelt die letzten Sonnenstrahlen. Die Amseln suchten in der mit Rauhreif überzogenen Wiese nach letzten Regenwürmern. Es würde bald Schnee geben, dann wäre die Futtersuche noch schwieriger und der Winter kann sehr lang werden. Auf einmal entstand in dem Beet zu meinen Füßen ein Tumult… eine Amsel zog mit aller Kraft an einem richtig dicken Regenwurm. Der ließ sich aber gar nicht aus der Erde ziehen, und die Amsel schimpfte in der ihr typischen Art laut und empört. Eine zweite Amsel kam hinzu und eine dritte und mit aller Kraft zogen sie an dem Wurm. Plötzlich gab die Erde nach. Die Amseln purzelten wild durcheinander, der Wurm flog in hohem Bogen durch die Luft und mit ihm – der Maulwurf! Er hatte den Leckerbissen unter der Erde entdeckt und am anderen Ende des Wurms gezogen. Vor Schreck ließ er den Wurm los, aber es war zu spät. Nach mehreren Drehungen in der Luft landete der lichtscheue Geselle direkt auf der Wolldecke auf meinem Schoß. Instiktiv griff er sich einen Zipfel und versteckte sich darunter. Er erstarrte vor Schreck. Überall war Licht! Und verbuddeln konnte er sich auch nicht. Zudem war es ihm plötzlich in seinem seidenweichen Fell sehr, sehr warm.
Die Amseln hatten sich derweil aufgerappelt und waren schimpfend in die Bäume geflogen um Ihr Gefieder zu sortieren. Üblicherweise schlagen Amseln nur selten Purzelbäume. An diesem Tag war alles irgendwie anders.
Ich selbst hatte erschrocken die Hände hoch gerissen, als die schwarze Pelzkugel auf mich zuflog und dabei auch etwas Tee verschüttet. Vorsichtig stellte ich den Becher neben mich auf die Bank. Alles war so schnell gegangen – was um Himmels Willen versteckte sich da unter dem Zipfel meiner Decke? Nach einem unendlich scheinenden Moment der Unbeweglichkeit erschien unter der Kante des Deckenzipfels eine kleine, rosafarbene Nase. Vorsichtig schnupperte sie in alle Richtungen um zwischendurch immer wieder unter der Decke zu verschwinden. Mehr und mehr bewegte sich der Maulwurf. Mal sah man eins der winzigen Ohren, dann lugte das Stummelschwänzchen hervor und mit einem Male nach einer letzten Drehung zeigte sich erst die Nase, dann der schwarze, flauschige Kopf und die mächtigen Pranken.
„Na, wer bist Du denn?“ flüsterte ich leise, mehr zu mir selbst als zu dem Maulwurf. Der Maulwurf drehte seinen Kopf und schaute mir direkt ins Gesicht. Nach einem langen, unbeweglichen Schweigen sagte er schließlich: „Na, das ist mal wieder typisch Mensch. Alles glaubt ihr zu wissen, aber Du weißt nicht mal, wer ich bin? Ich bin Franz!“. Dann fing er wieder an zu schnuppern und versuchte sich, durch die Decke zu graben. Ich selbst war sprachlos… ein Tier, was mit mir spricht! Er verstand, was ich sagte! Wie unglaublich und wie wunderbar… ich hatte 1000 Fragen!
„Franz!“ rief ich aufgeregt, „Franz, ich hab soooo viele Fragen, zum Beispiel wüsste ich gern…“- „Halt! Stop!“ rief Franz, der schon ahnte, was jetzt kommen würde. „Nichts, gar nichts werde ich Dir erzählen. Je mehr Ihr Menschen wisst, desto mehr Unheil richtet ihr an!“ Und er fing an, mir aus aller Welt zu berichten, wie die Menschen der Natur Unrecht tun – wie konnte das sein? Er kam doch kaum raus aus dem kleinen Garten? Nachdem er fertig erzählt hatte, was er alles über uns Menschen wusste – und das war ganz schön viel und dauerte ziemlich lange- war Franz erschöpft. Zudem war ihm einfach zu warm. „Ich habe eine einzige Frage“, sagte er schließlich. „Wo ist die Erde? Wo ist mein Zuhause? Irgendwas hat mich durch die Luft gewirbelt und ich weiß nicht, wo ich bin…“ Der arme Kerl hatte durch den Schreck und den Wirbel durch die Luft völlig die Orientierung verloren und die Umgebung einer warmen Wolldecke war ihm völlig fremd – er hatte ja seinen Pelz und brauchte keine warmen Decken. Maulwürfe waren normalerweise die Ruhe selbst, aber Franz wurde in der fremden Umgebung langsam unruhig. Zudem hatte er immer noch Hunger und brauchte dringend einen Wurmeintopf oder eine leckere Käferspeise.
Es wäre ein Leichtes für mich gewesen, ihn einfach wieder auf die Erde zu setzen. Schließlich war sein Zuhause keinen Meter weit entfernt. Ich war traurig bei dem Gedanken, dass die wundersame Begegnung nun vorbei sein sollte und nicht eine meiner Fragen war beantwortet. Daher schlug ich ihm vor: „Beantworte Du mir EINE Frage und ich beantworte Deine Frage. Ich verspreche Dir, Du bist schnell wieder zuhause…“ Franz überlegte. Er wollte den Menschen keine Informationen preisgeben. Je weniger sie wissen, desto besser – das war in Maulwurfkreisen allgemein bekannt. Andererseits war er so müde, hungrig und wollte nach Hause. Ich bemerkte seinen Konflikt und hatte ein schlechtes Gewissen. Seine Notlage so auszunutzen war sonst nicht meine Art und ich schämte mich. „Franz, vergiß es ganz schnell“ beeilte ich mich zu sagen. Ich verstehe Dich. Ich setze Dich jetzt vorsichtig vor Deinem Zuhause ab und Du musst mir keine Frage beantworten. Franz war erleichtert. Ich nahm ihn behutsam aus der Wolldecke und genoß den Moment, sein weiches, samtiges Fell berühren zu dürfen. Dann setzte ich ihn vor dem Loch im Boden ab, aus dem die Amseln ihn ans Licht katapultiert hatten und er verschwand sofort in der Dunkelheit.
Ich schaute noch eine Weile und zwickte mich ab und zu, ob ich das vielleicht doch nicht nur geträumt hatte. Ich drehte mich um und wollte gerade gehen, da rief es hinter mir: „Hey, Mensch!“ – Ich blickte zurück. Da saß ein nachdenklicher Franz: „Welche Frage wäre es denn gewesen?“ – Ich zauderte. Meine Frage war reine Neugier und im Grunde ging es mich gar nichts an. „Nun? Ich warte!“ sagte Franz. „Ich wüsste gern, wie ein Maulwurf Weihnachten feiert!“. Franz schaute verblüfft. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte erwartet, dass ich nach einem vergrabenen Schatz fragen würde oder wo man das reinste Brunnenwasser finden kann. Er beantwortete meine Frage nicht. „Ich überlege es mir“ sagte Franz „In ein paar Tagen komme ich wieder und teile Dir meine Entscheidung mit“ Dann verschwand er endgültig in seinem Labyrinth aus Gängen.