Kalendertürchen Nr.21 für Dich:
Wie der Maulwurf Weihnachten feiert
– Der Festsaal und die Rückkehr –
Nach dem Einstieg in Franzens Gewölbe umfing mich tiefste Finsternis. Zum Glück hatte ich meine Taschenlampe dabei und konnte mich so einigermaßen orientieren. Obwohl die braune Erde und das schwarze Fell von Franz fast alles Licht absorbierten. Aber ich hörte Franz atmen. Ich stapfte eine ganze Weile hinter Franz her und schließlich kamen wir an einem größeren Raum an. Er war angefüllt mit Heu. Hier binde ich die Duftketten für die Adventszeit. Sie werden überall in den Gängen aufgehängt. Immer erst einen langen Halm, dann einige getrocknete Kräuter, dann wieder ein Halm.
Wenn ich sie aufhänge und durch die Gänge gehe, riecht es abwechselnd nach Lavendel, wildem Dost, Rosmarin, Gänseblümchen, Flieder, Fingerhut, Schafgarbe, Margaritte, Kornblume, Veilchen. Jeder Maulwurf bindet die Duftketten nach der Tradition seiner Familie. An der Reihenfolge der Blüten kann man erkennen, von welchem Maulwurf die Kette gebunden wurde. Es ist eine hohe Kunst, damit sich nicht zwei Gerüche vermischen, die nicht zueinander passen. Auch die Abstände müssen stimmen. Vor allem Lavendel braucht großen Abstand, er ist sehr intensiv. Veilchen brauchen kaum Abstand. Ihren zarten Duft können manche gar nicht wahrnehmen.
Am 6. Dezember werden die Nachbar- Maulwürfe bedacht: Je nach dem, ob sie gute Nachbarn waren, dein Revier respektiert und Dir genug Käfer gelassen haben oder ob sie frech an der Grenze gewildert und Deine Tunnel angegraben haben versteckt man in Ihren Gängen besondere „Duftnoten“. Liebe Nachbarn bekommen erfrischende Minze, Walderdbeerblüten oder Waldmeister, die Dreisten bekommen Lilienstempel. Lilien sind wunderschön, aber der Duft ist eine Katastrophe! Natürlich versucht man sich gut zu benehmen und mit den Nachbarn zurecht zu kommen, denn kein Maulwurf sammelt gern Lilienstempel. Den Geruch bekommt man gar nicht von den Pfoten. Nun ja, bei dieser kleinen Ermahnung bleibt es dann auch meist, und die bösen Buben haben die Gelegenheit, bis Weihnachten den Mief aus ihren Gängen zu bekommen.
So, nun lass uns mal weiter. Du weißt ja, wir Maulwürfe sind im allgemeinen Einzelgänger und genießen unsere Ruhe. Während wir buddeln, haben wir viel Zeit zum denken, denn nichts lenkt uns ab oder erfordert unsere Aufmerksamkeit. Wir buddeln und denken. Und natürlich tauschen wir uns über unsere Gedanken und Erfahrungen aus. Komm mit in den Netzraum! Ein wichtiger Teil der Maulwurfsgemeinschaft, er war schon immer da.
Im Netzraum hingen unendlich viele Wurzeln von der Gewölbedecke. Die dickeren Wurzeln hatten einen Knoten. „Das ist unser Zwischennetz. Wir sind hier sehr Stolz auf unser supereffektives Netzwerk, denn wir können auf Schachtelhalm zurückgreifen. Schachtelhalm ist bis 6 Meter Tiefe erreichbar und seit Millionen von Jahren etabliert. Ziemlich robust. Zudem hat es Antennen nach oben, mit denen wir sehr weit in die Luft hören können. Wir sind über ALLES informiert, was auf dem Planeten 6 Meter unter oder über dem Schachtelhalm passiert. Andere Maulwürfe müssen mit Gierschwerk vorlieb nehmen, das vergrößert sich zwar schneller in die Breite, reicht aber nicht ganz so tief. Die Blätter übertragen den Luftschall auch nicht so präzise wie Schachtelhalm. Man hört daher nur dumpf oder abgehackt. Es geht nichts über Schachtelhalm! Im Frühjahr, wenn der Schachtelhalm blüht, schleichen sich pfiffige Maulwürfe nachts aus dem Bau und pusten die Sporen des Schachtelhalms soweit sie können in die Landschaft um Ihr Netz zu erweitern. Ich muss das nicht mehr, mein Netz ist gut ausgewachsen.“ Franz griff sich zwei kleinere Knoten und steckte sie sich in die Ohren, einen größeren Knoten hielt er sich vor den Mund und schnalzte, schmatzte und knackte hinein. Er lauschte und lachte… dann schmatzte und schnalzte er wieder, während ich ungläubig daneben saß. So ging das eine ganze Weile und mir wurde langsam kalt.
„Du frierst“ stellte Franz fest. Mittlerweile fragte ich nicht mehr- ich wusste, er hatte das Klappern meiner Zähne gehört. Meine Kleidung konnte mit seinem dichten Maulwurfspelz nicht mithalten. „Dann lass uns mal zum großen Festsaal herunter steigen, dort ist es wärmer. Er wird mit Erdwärme beheizt. Zu Weihnachten, wenn es knackig kalt ist, ist das sehr angenehm. Ich habe den anderen gerade gesagt, dass Du kommst, sie sind vorbereitet.“ Franz ging zu einem steil herabfallenden Gang. „Hmmm. Das wirst Du mit Deinen einfachen Händen nicht hinbekommen. Wir müssen eine Weile durch den Gang rutschen und dabei mit den Pranken bremsen. Wir kommen nur da runter, wenn Du Dich auf meinen Bauch legst und an mir festhältst. Du darfst auf keinen Fall loslassen, sonst stürzt Du ab und purzelst viel zu tief runter. Schaffst Du das?“ Ein warmer Luftzug kam mir aus der steilen Röhre entgegen. Das letzte Mal, als ich Franz berührt hatte, war er klein und ich groß. Nun war es umgekehrt. Damals war es für mich völlig klar, dass Franz kein Leid geschehen sollte. Nun war es wohl umgekehrt. Franz würde mich nicht gefährden, darauf konnte ich mich verlassen.
Langsam ging ich näher und schmiegte mich in dieses unglaublich weiche, feine Fell. Sofort wurde mir wieder warm, es war unglaublich. Ich fühlte mich wunderbar wohl und genoß diesen kuscheligen Moment. „Kann es losgehen?“ fragte Franz. „Ja, es kann losgehen…“ Und schon begann die wilde Rutscherei wie eine Achterbahnfahrt unter die Erde. Nach einigen Minuten bremste Franz scharf mit allen Krallen und katapultierte uns mit Schwung in den großen Festsaal. Wir landeten auf einem weichen Moospolster, der die anfliegenden Maulwürfe hier weich und sicher landen ließ und purzelten über einander her… dann lachten wir beide. Das war aufregend gewesen und ein riesen Spaß! Franz reichte mir meine Taschenlampe, die ich verloren hatte, aber meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und ich konnte auch so schon viel erkennen. Also ließ ich die Lampe aus, auch um die anderen Maulwürfe nicht zu blenden. Der Festsaal war einfach nur eine große, dunkle Höhle. „Ist das nicht wunderbar?“ rief Franz. Er strahlte übers ganze Gesicht und seine Pranken wedelten vor Aufregung hin und her. „Jaaaa…- ähmmm. Doch… “ ich wollte höflich sein, war aber etwas ratlos.
Zum Glück merkte Franz in seiner Begeisterung meine Enttäuschung nicht. Er hüpfte am Rand der Höhle entlang und erklärte: Fühl mal, das hier ist feinster Sand… und hier, ein Stück weiter: Waldboden, riechst du diesen wunderbaren Duft? Und hier… Mutterboden vom Feinsten! Rote Erde aus Spanien! Sand aus der Sahara! Gesteinsmehl aus den Alpen! Und hier: Torfboden! Franz fühlte und schnupperte. Der ganze Festsaal war in unendlich viele Bereiche unterschiedlicher Böden unterteilt. „Das ist wie ein großer Kessel unterschiedlichster Erdsorten. Und alles ohne Steine! Zu Weihnachten verstecken wir darin Blüten und Leckereien wie Käferlarven und Würmer und wenn wir dann alle zusammen kommen, kann jeder in seinem Lieblingsbereich nach Herzenslust graben und schmausen. Jeder kann mal in einer Erde wühlen, die er sonst vielleicht nicht hat, kann neue Erfahrungen sammeln und neue Wurmsorten probieren. Würmer schmecken natürlich immer nach dem, was sie so fressen und hier trägt jeder die Spezialitäten aus seinem Gebiet zusammen. Ich zum Beispiel hole immer Kompostwürmer von Müllers Kompost. Da ist fast nur Kaffeepulver drin. Von den Würmern darf man allerdings nicht zu viele Essen, sonst kann man 3 Tage nicht schlafen. Rudi bringt immer Erdbeerwürmer mit und die Nusslaubwürmer von Marianne sind eine Delikatesse! Ganz beliebt und vitaminreich sind auch die Apfelwürmer.“
Franz lief das Wasser im Munde zusammen, wenn er an Weihnachten dachte und seine Nase schnupperte schon jetzt in Vorfreude auf die Gerüche der Erden und der versteckten Kräuter. „Da du Weihnachten zuhause feierst, darfst du ausnahmsweise jetzt schon mal etwas buddeln. Probiere es mal aus“ Ich erfühlte die verschiedenen Erden und sie waren wirklich völlig unterschiedlich. Einige waren faserig, andere klebrig, wieder andere fein wie Staub. „Möchtest Du einen Nusslaubwurm probieren?“ fragte Franz? Ich schüttelte heftig den Kopf. „Du verpasst etwas. Aber gut. Wenn wir dann alle satt und müde sind, gehen wir in die Netzzentralen und schicken unseren Lieben, die weiter weg wohnen, kleine Melodien und friedliche Klänge um Weihnachten liebevoll ausklingen zu lassen. 3 27 18 ist mein Bruder Fritz, 7 88 12 meine Schwester Grete.“ Während seiner Ausführungen tippte ihm Rudi, einer der anderen Maulwürfe, auf die Schulter. „Es wird Zeit…“
„Oh,ja, wir müssen los, es wird höchste Zeit. Du bist auch schon wieder einen Millimeter gewachsen, das kommt von der feuchten Erde… bald passt Du nicht mehr durch die Gänge. Wir nehmen den Aufzug!“ Franz ging zu einem senkrechten Loch mit einer quer liegenden Wurzel. „Halt Dich wieder an mir fest, so fest Du kannst!“ Franz stand auf der Wurzel und schob uns Stück für Stück immer weiter nach unten. Die Wurzel bog und dehnte sich. Als Franz nicht mehr weiter nach unten kam, ließ er abrupt los und wir wurden in irrwitziger Geschwindigkeit nach oben katapultiert. Oben angekommen machte Franz eine Rolle vorwärts und wir landeten sicher seitlich des Aufzugschachtes. Langsam wurde mir klar, dass viele Erfindungen der Menschen vielleicht doch nicht als erstes von den Menschen erfunden wurden. „Du kannst jetzt loslassen“ sagte Franz „Wir müssen uns beeilen“. Nach wenigen Gängen, vier mal links, zwei mal rechts, drei mal geradeaus – waren wir am Ausgang.
Franz umarmte mich noch einmal. „So, du Mensch. Nun weißt du, wie wir Weihnachten feiern und sogar etwas mehr. Ich hoffe, du erweist Dich der Erkenntnisse würdig. Ich wünsche dir ein wundervolles Weihnachtsfest, dass du wirklich mit allen Sinnen genießen kannst.“ Er gab mir noch einen feuchten Maulwurfkuss auf die Wange, und schubste mich mit Schwung wieder in meinen Pudding. Kaum war ich darin, wuchs ich wieder zu meiner ursprünglichen Größe – na, vielleicht auch einen Millimeter mehr. Maulwürfe lieben kurze Verabschiedungen. Franz winkte kurz und verschwand in seinem Bau. Ich war noch ganz verzaubert und hatte jetzt viel zu tun. Schließlich galt es, meine Welt mit allen Sinnen neu zu erleben, zu genießen und zu gestalten. Und wenn ich mich selbst daran erinnern will, dann schließe ich die Augen und flüstere